Gemeinsam eintauchen in die analoge Welt Chargesheimers – ein Expertenabend mit Wohnzimmeratmosphäre
Anekdoten aus Chargesheimers Leben, alte Kameras, gemeinsames Stöbern in unzähligen Fotobüchern und Original-Druckgrafiken, ein Schallplattenspieler, Jazz, neugierige Hände in weißen Stoffhandschuhen, die Fotografien durch die Reihen reichen. Und inmitten von alledem: Eusebius Wirdeier, der an diesem Abend des 28. Februar seine Gäste mitnimmt auf eine lebendige Reise durch Chargesheimers Leben. Wir danken Herrn Wirdeier an dieser Stelle für die Aufbereitung und Bereitstellung seiner umfangreichen Materialsammlung und möchten Euch nun mitnehmen zu einem Rückblick auf diesen besonderen Abend.
Trotz pedantischen Nieselregens füllte sich an diesem Freitagabend das Atelier Colonia stetig mit Besuchern, bis um Punkt 20 Uhr nahezu jeder Stuhl besetzt war. Viele fanden den Weg in die Körnerstraße 37 – die Lesung hatte sich rumgesprochen und das Interesse war groß. Denn unter der Lichtkuppel des Atelier Colonia lud heute Eusebius Wirdeier dazu ein, anhand diverser Gegenstände aus den 50er bis 70er Jahren in die analoge Welt Chargesheimers einzutauchen und so die Bedingungen und Umstände seiner künstlerischen Arbeit besser nachzuvollziehen.
Wirdeier, selbst Fotograf, Buchgestalter, Autor, Herausgeber und Kurator, sammelt und erforscht Fotografie. Seit 1985 beschäftigt er sich intensiv mit Chargesheimer als Persönlichkeit und gilt als ausgewiesener Experte für das Leben und Werk des Kölner Fotografen und Künstlers. Für die CHARGESHEIMER LECTURE #2 hatte er 1,3 Regalmeter Chargesheimer-Fotobücher und Broschüren mitgebracht.
Fotos: Frederic Lezmi
Nachdem alle auf ihrem Stuhl das Paar weiße Handschuhe – Vorsichtsmaßnahme bei so kostbarem Gut – entdeckt und Platz genommen hatten, ging die Zeitreise auch direkt los. Inmitten von Objekttischen, die wie in einer Bibliothek von einzelnen Leselampen erhellt wurden und zahlreiche Bücher, Fotografien, Drucke oder Kameras präsentierten, saß Wirdeier und wanderte gedanklich durch die Jahrzehnte Chargesheimers Wirken. Neben Einblicken in diverse Fotobücher referierte er auch über das Privatleben des Künstlers, die Beziehung zu seiner Frau Ann Chargesheimer, über Besonderheiten seines Arbeitsstils oder die für ihn typische Arbeitsmoral.
Aus der Recherchetätigkeit und dem Umgang mit den Original-Negativen ergab sich z. B., dass das in den Fotobüchern abgedruckte Bild oft nur einen Ausschnitt darstellt, der etwa zehn Prozent der Originalgröße des Negativs entspricht. Chargesheimer arbeitete mit großen Negativen und wählte bewusst kleine Ausschnitte für die Gestaltung der Fotobücher. Seiner künstlerischen Motivation folgend fotografierte er gerne abstrahierend und nie gefällig. Hin und wieder fertigte er aber auch Auftragsarbeiten im Rahmen der Werbefotografie an – „Man musste ja irgendwie Geld verdienen“. Er galt als experimentierfreudig, belichtete seine Aufnahmen in den späten 1940er Jahren oft doppelt und mischte bei den Lichtgrafiken, so sagt man, der Entwicklerflüssigkeit manchmal auch Körperflüssigkeiten bei, um den bildnerischen Prozess zu stoppen. Seit der Veröffentlichung von „Unter Krahnenbäumen“ (1958) gestaltete Chargesheimer das Layout seiner Bücher selbst, denn nur so konnte er die Geschichten auf seine Art und Weise erzählen. Das Porträt Adenauers (1957) oder die die Unwirtlichkeit unserer Städte entlarvenden Aufnahmen in „Hannover“ (1970) sind gute Beispiele seiner typisch ehrlichen und rigorosen Bildsprache. Durch diese erzielt er in der Öffentlichkeit häufig das Bild eines mutigen, provokativen Fotografen mit politischer Haltung. Privat lebt Chargesheimer jedoch mehr und mehr zurückgezogen, ist launig und frustriert. Für das Buch „Köln 5 Uhr 30“ (1970) lässt er beispielsweise drei verschiedene Vorworte schreiben (L. Fritz Gruber, Heinrich Böll und Hans Schmitt-Rost, Chef des Presseamtes der Stadt Köln als Autoren), verwirft jedes einzelne und schreibt es letztendlich selbst. Der damalige Misserfolg des Buches sowie die in seinen Augen falsche Rezeption heben die Stimmung nicht und führen zu den Selbstmord-Spekulationen bezüglich seines Todes Anfang 1972. Heute werden rare Exemplare von „Köln 5 Uhr 30“ ab einem Wert von 1.000 Euro gehandelt.
Eusebius Wirdeier zeigt die Linhof Super-Technika IV 6 x 9
Fotos: Frederic Lezmi / Philipp Gabriel
Vieles, viel zu Vieles, gibt es an diesem Abend zu erzählen. Auch durch den regen Austausch mit dem Publikum – immer wieder werden Fragen gestellt und Anekdoten ergänzt – wirkt die Veranstaltung nicht wie ein Vortrag, sondern vielmehr wie ein gemeinsames Entdecken von Chargesheimers Werk. Objekte, Druckgrafiken, Fotografien werden durch die Reihen gereicht und begutachtet, die Gäste werden Teil der Feldforschung, entwickeln mehr und mehr Interesse für diesen besonderen Künstler und verstehen die Leidenschaft, mit der Wirdeier sich schon seit seiner Kindheit diesem „Querdenker“ widmet. Langweilig wird es nicht. Auch nach Ende des Vortrags versammeln sich viele Anwesende um die Tische herum, stöbern, lesen, lachen, fragen und fotografieren. Während Wirdeier langsam beginnt, seine Materialsammlung einzupacken, beantwortet er weiterhin Fragen und reicht manches Buch noch einmal aus dem Karton heraus. Im Hintergrund läuft leise ein Jazz-Stück von Hans Koller aus der Mod-Records-Cologne-Box, auch diese mit Chargesheimer-Fotografien auf den Plattencovern.
Video-Dokumentation von Beate Scherer & Wilm Huygen
Zurück bleibt das Gefühl, nicht nur zugehört, sondern Teil von etwas gewesen zu sein, Einblicke in eine sehr besondere und umfangreiche Sammlung erhalten zu haben. Wie in einem Wohnzimmer haben wir gemeinsam mit Eusebius Wirdeier in alten Büchern gestöbert und so dem Leben und Denken des Kölner Fotografen und Künstlers Chargesheimers nachgespürt.
Wir danken allen Teilnehmer*innen für ihren Besuch, ihr Interesse und den regen Austausch! Wir sind bereichert und inspiriert aus diesem Abend gegangen.
Eusebius Wirdeier (*1950 in Dormagen) lebt seit 1951 in Köln. Neben seiner langjährigen Profession als Fotograf, Buchgestalter, Autor, Herausgeber und Kurator beschäftigt sich Wirdeier in seiner freien Arbeit seit jeher mit dem öffentlichen Raum und Alltag im Rheinland, vor allem in Köln. Er sammelt und erforscht Fotografie, wobei er sich seit 1985 intensiv mit Chargesheimer als Persönlichkeit beschäftigt und daher als ausgewiesener Experte für das Leben und Werk des Kölner Fotografen und Künstlers gilt.
So war Wirdeier maßgeblich an der Herausgabe zweier Reprintausgaben von „Unter Krahnenbäumen“ beteiligt (1998 & 2007, Schaden Verlag) und publizierte wichtige Textbeiträge zu Chargesheimer u. a. in „Chargesheimer 1924 – 1971: Bohemien aus Köln“ (2007, Greven Verlag) anlässlich der Chargesheimer-Ausstellung im Museum Ludwig und in „Köln und seine Fotobücher“ (2010, Emons Verlag). Darüber hinaus fungierte Wirdeier 2004 als Kurator der Ausstellung „Chargesheimer – Unter Krahnenbäumen“, die in titelgebender Straße stattfand und in mehreren Veranstaltungen derzeitige und ehemalige Bewohner*innen der Straße miteinbezog.